Zyklisch wie in jedem Jahr wird in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai die Walpurgisnacht im Einhornland ausgelassen gefeiert. In dieser magischen Nacht richtet sich die gesamte Aufmerksamkeit der Bewohner im ganzen Land auf dieses Fest der Fruchtbarkeit, der Liebe und des Wachstums. Es ist ein Fest des Jubels und der innigen Freude.
Am frühen Abend beginnen die Vorbereitungen für die Nacht voller Magie. In der Gemeinschaft der Gruppe spazieren die Einhörner über die saftig grünen und mit Fülle übersäten Wiesen. Jedes Einhorn sammelt die Kräuter, die es ansprechen, die nach ihm rufen. Ja, die Einhörner können gut mit der Feinstofflichkeit der Pflanzen kommunizieren. So geht jedes Einhorn behutsam und wachsam in meditativer Stimmung über das saftige, manchmal noch feuchte Gras und lauscht, nimmt mit all seinen Sinnen wahr, an welcher Stelle in dieser unermesslichen Vielfalt, die Stimme des nächsten Krautes ruft. Auf der ganzen Wiese herrscht in jenen Momenten eine harmonische, sinnliche und stille Stimmung. Lautes Geplapper und Geschrei gibt es zu diesem Zeitpunkt des Festtags nicht.
Danach binden die Dorfbewohner in gemütlicher Gemeinschaft Kräutersträuße und -kränze. Dabei wagen die Einhörner einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. Sie bitten um Segen, Fruchtbarkeit und Fülle für das kommende Jahr. Als Zeichen werden am 1. Mai die kreativen Kräuterschätze in den Wohnungen der Einhörner dekorativ arrangiert. Die Kräuter, die sich in den jeweiligen Gebinden wiederfinden, unterstützen die Person im kommenden Jahr für Körper, Geist und Seele.
Um Mitternacht entzünden die Ältesten das heilige Feuer, das die ganze Nacht über wärmend, knisternd und lodernd brennt. Die Kräuterbüschel des Vorjahres werden mit einem Dankbarkeitsritual in die feurige Glut geworfen. Jeder spricht gedanklich oder laut die Worte aus, die er dem symbolischen Gegenstand auf seine Reise in ein fernes Land mitgeben möchte. Durch den Rauch und die sprühenden Funken werden die heiligen Worte der einzelnen Einhörner an die Luft übergeben, mit der Hoffnung und der Bitte, dass sie diese feinstofflichen Energien weit übers Land verteilen. Der aromatisch-würzige Duft, der während der Verbrennung der ausgedienten Symbole als weiß, betörend und berauschend in die Lüfte emporsteigt, bestätigt mit diesem Zeichen, dass die Bitte erhört wird.
Man könnte fast meinen, dass Himmel und Erde sich an diesem wundersamen Tag liebten und vereinigten. Vater Himmel machte die Mutter Erde fruchtbar. So wie im Außen, so vollzieht sich alljährlich die Vereinigung im Inneren jedes Einhorns. Jedes Lebewesen beinhaltet eine grobstoffliche männliche Seite und eine feinfühlige weibliche Seite. Die Liebe zwischen Mann und Frau wird an jenem Tag ganzheitlich geschätzt und gefeiert.
Rituell wird in jedem Jahr der Maibaum festlich geschmückt. Im magischen Land ziert eine alte Birke den Festplatz. Der Baum hat seinen festen Standort und ist tief verwurzelt und verbunden mit Mutter Erde. Der maigrüne Baum und der weiß marmorierte Stamm werden mit kunterbunten und farbenfrohen Bändern aus Baumwolle liebevoll geschmückt. Der Maibaum ist das Symbol für Liebe und Fruchtbarkeit für Menschen, Tiere, Pflanzen, Gärten und Felder.
Den Tanz in den Mai eröffnen die Kinder aus dem Einhornland. Festlich geschmückt, mit in den Schweif geflochtenen Bändern und Pflanzen. Den langen Hals der Tiere zieren geflochtene Kränze aus Gänseblümchen und anderen Frühjahrsblühern. In ihrem Tanz halten die Kinder bunte Farbbänder in den Händen. Diese Bänder flechten sie spielerisch und kreativ während des einstudierten Ablaufs um den kräftigen Stamm der Birke.
Die stolzen Eltern beobachten das Spektakel und schenken ihren Sprösslingen nach Beendigung einen kräftigen Applaus. Danach beginnt ein gemütliches und geselliges Zusammensein, das bis in die späten Morgenstunden andauert. Fröhlicher Gesang, bewegender Tanz um den festlich geschmückten Maibaum, reger Austausch mit ausgelassener Stimmung und herzerfüllendes Gelächter sind in dieser Nacht bis in die weite Ferne wahrzunehmen.
Das Lachen, das ebenfalls ein Ritual und Höhepunkt des Abends ist, dient dazu, dunkle Energien des langen und kalten Winters endgültig zu vertreiben. Diese Energien werden bewusst in der Gemeinschaft in den Wind gegeben, mit der Bitte an den Wind, er möge alles Blockierende dieser Zeit auf seine Reise übers Land mitnehmen, reinigen und in frühsommerliche Stimmung verwandeln.
Für das leibliche Wohl sorgten die Frauen. Jede Familie bringt die Speisen und Getränke mit, die sie gerne zubereiten und essen. All die Leckereien werden auf einem großen Tisch in der Mitte des Festplatzes liebevoll angerichtet. Schon beim Anblick läuft einem das Wasser im Munde zusammen. So gibt es Wildkräutersuppen, Kräuter- und Gemüseaufstriche, frisch gebackenes Brot, Gemüsekuchen vom Feinsten, herrlich duftenden Apfelkuchen und vieles mehr. Diese Köstlichkeiten gibt es in den unterschiedlichsten Variationen. Die wenigen Reste des üppigen Buffets geben sie aus Dankbarkeit an Mutter Natur zurück. Später, nach Beendigung des Festes, legen die Einhornfrauen diese unter den Maibaum, sodass auch die Zwerge an diesem Mahl teilhaben konnten.
An Getränken gibt es ein reichhaltiges alkoholfreies Angebot, wie zum Beispiel selbst hergestellte Fruchtsäfte, Sirups aus Blüten und klares Bergwasser vom Fluss des Lebens. Für die Erwachsenen sind die Höhepunkte das gebraute Bier aus Gundelrebe und diverse Schnäpse von Wildkräutern und Beeren. Bei diesem Feiertag darf die bekannte Maibowle natürlich nicht fehlen. Für die Kinder gibt es Erdbeerapfelsaftbowle mit Waldmeister, und die Erwachsenen genießen das Getränk mit Sekt, Wein, Erdbeeren und Waldmeister. Beim Genuss von Waldmeister achten alle Gäste darauf, ihn nur in Maßen zu sich zu nehmen, da übermäßige Gaumenfreude Kopfschmerzen verursachen kann. Das wollte sich keiner der anwesenden Einhörner an diesem erhebenden Fest antun.
An diesem Abend mischen sich die Einhornkinder gerne unter die Erwachsenen und Ältesten. Selbst die Kleinsten unter ihnen lauschen den inspirierenden und weisen Gesprächen ihrer Ahnen. Die Kinder lernen durch aufmerksames Zuhören und praktische Tipps, die das Leben im magischen Land mystischer und noch liebenswerter für sie erscheinen lassen. Die Jungen werden in Gespräche einbezogen, und ihre Meinung ist den Älteren sehr wichtig. Durch den regen Austausch wird das Wissen der Alten mit den Erfahrungen der Jungen respektvoll vereint. Daraus entsteht Wachstum, Reife und Neues.
In dieser Nacht vom 30. April auf den 1. Mai wird neuer Samen auf die Erde gestreut, der im Jahreskreis wie ein zartes Pflänzchen aus der Erde schlüpft, um zu wachsen, zu gedeihen und zu erblühen.